Eine Geschichte des K-Pop – 불을 켜


In diesem Monat haben sich erstaunliche Dinge auf YouTube zugetragen. Am 5. April um 0:00 Uhr koreanischer Zeit veröffentlichte die südkoreanische Girlgroup BLACKPINK ihr lange erwartetes Comeback „Kill this Love“, und brach so ziemlich alle Rekorde, die die Videoplattform kannte. Binnen 24 Stunden wurde das Musikvideo 56,7millionenmal aufgerufen und verdrängte damit Ariana Grande vom ersten Platz; der Meilenstein von 100 Millionen Views wurde nach 62 Stunden erreicht – ebenfalls ein Rekord (der bisher ihrem Landsmann Psy und seinem Hit „Gentleman“ gehörte). Die Million Likes in einer halben Stunde geraten da fast in Vergessenheit.

YouTube spendierte den vier jungen Frauen zum Glückwunsch eine Live-Übertragung ihres Auftritts bei dem Coachella-Festival in Kalifornien auf dem größten Bildschirm am Times Square in New York.

Und was für ein Video.

BLACKPINK kommen übrigens im Mai im Rahmen ihrer ersten Welttournee nach Europa (mit der neuen EP im Gepäck). Meine Frau und ich hatten dementsprechend unverbindlich daran gedacht, uns das Konzert am 24. Mai in der Max-Schmeling-Halle anzuschauen – mein Gott, was waren wir naiv. Denn während wir an dem Morgen der Freigabe darüber sprachen, ob denn 150 € (Minimum) pro Karte nicht ein wenig zu teuer wären, waren die Tickets bereits ausverkauft. StubHub sei Dank, wir schauen uns die Damen jetzt in Amsterdam an.

Der größte Pop-Act der Welt

Die Freude der vier war allerdings von sehr kurzer Dauer, denn am 12.4. erschien das neue Album von BTS, der erfolgreichsten K-Pop-Gruppe überhaupt. Und der dazugehörige Song „Boy with Luv“ verursachte Server-Abstürzebei YouTube und pulverisierte den Rekord ihrer Kolleginnen: 1,2 Millionen in einer Stunde, 78 Millionen in 24 Stunden, 100 Millionen in anderthalb Tagen. Ganz beiläufig wurden Rekorde auf Musikstreaming-Seiten gebrochen. Hashtags zu BTS, ihrem Song und Album dominierten die weltweiten Trends auf Twitter. Nebenbei haben Namjoon und seine Jungs derweil ihre anstehenden Europakonzerte im Wembley-Stadion und dem Stade de France in unter 90 Minuten ausverkauft. 

Was vor wenigen Jahren noch absurd geklungen hätte, wird immer mehr zur Realität: Eine Gruppe aus Korea, die es erst seit Juni 2013 gibt, ist einer der größten Pop-Acts der Welt. 

Am Anfang war ich ehrlich gesagt nicht komplett überzeugt, aber so beim dritten Zuhören bekommt der Song RICHTIG fiese Ohrwurm-Qualitäten.

Allerdings ist der April noch nicht vorbei: Am 22.4. erscheint „Fancy“, das neue Lied der wohl beliebtesten Girlgroup Asiens, und die treuen Fans von TWICE (die sogenannten Onces) haben schon zum Sturm auf YouTube geblasen, um BLACKPINK und BTS diese Rekorde zugunsten ihrer Lieblinge zu entreißen. TWICE sind im Westen noch nicht so bekannt wie BTS, aber sie sind auch die Gruppe, die den MNet Asian Music Award für besten Song die letzten drei Jahre in Folge gewonnen haben (2x davon gegen die meiner Meinung nach besten Lieder von BTS), und ihre kürzlich beendete Stadiontour in Japan (210.000 Tickets) war in weniger als einer Minute ausverkauft. Darüber hinaus sind sie in Lateinamerika enorm beliebt: Man schaue sich an, wie die Fans in Chile jedes Wort auf Koreanisch (!) mitsingen.  

Das wirkt übrigens nur auf den ersten Blick überraschend: Tatsächlich exportiert Korea seit Jahren aggressiv Musik und TV-Sendungen nach Lateinamerika.

BTS sollten sich also noch nicht auf ihren wohlverdienten Lorbeeren ausruhen; doch egal, wer am Ende die meisten und schnellsten Views innehaben sollte, ist es doch erstaunlich, dass mittlerweile koreanische Künstler die Rekorde allein unter sich ausmachen.

K-Pop zu Gast in der westlichen Welt

Wer in Deutschland lebt und koreanische Musik live sehen will, lebt derzeit in einer gesegneten Epoche. Außer BLACKPINK geben der Sänger Eric Nam, die Rapper Epik High und Sik-K, die Boygroup IMFACT und weitere Künstler dieses Jahr Konzerte in Berlin und Köln. In Düsseldorf geben sich im Mai fünf große Acts (EXID, Stray Kids, KARD, Ailee und ASTRO) ein gemeinsames Stelldichein.

Als letzten Sommer die Music Bank Tour des öffentlich-rechtlichen Senders KBS in Berlin gastierte (mit Acts wie EXO, Stray Kids und (G)I-DLE) war die Max-Schmeling-Halle bis zur Decke vollgepackt mit schreienden deutschen Fans.

Man stelle sich analog vor, die ZDF-Hitparade oder der ARD-Musikantenstadl wären als Botschafter deutscher Kultur auf Welttournee gegangen, und schäme sich dann fremd.

Für Taemin braucht sich hingegen niemand zu schämen: Verheiratete heterosexuelle Männer werden bisweilen schwanger, wenn er anfängt, zu tanzen. Schade, dass ich das verpasst habe.


BTS sind währenddessen auf der Titelseite der Bravo. Und auf deutschen Schulhöfen wird wie selbstverständlich darüber gestritten, ob die hübscheren Jungs bei Monsta X oder EXO zu finden seien. Wie weiland bei den Backstreet Boys und N*Sync (die richtige Antwort ist übrigens SHINee). Ich lief dieses Wochenende durch den Kölner Hauptbahnhof, und drei Mädchen spielten am Gleis laute Musik auf ihrem tragbaren Lautsprecher. Nicht etwa Ed Sheeran oder Kollegah, sondern BLACKPINK. 


Auf dem Cover der Bravo? Sind BTS natürlich vertreten.


Gangam Style? War nur der Anfang

In den knapp sieben Jahren, seitdem „Gangnam Style“ den viralen Hit neu definierte, ist koreanische Popmusik im Westen von einer Kuriosität mit Nischendasein zu einem festen Bestandteil der Popkultur-Landschaft geworden. Mittlerweile dürfte der letzte Beweis dafür geliefert worden sein, dass der globale Siegeszug des K-Pop auch vor Deutschland nicht Halt macht. Das, obwohl es in Deutschland keine millionenstarke koreanische Community gibt wie etwa in den USA. Allein im Großraum Los Angeles leben über 300.000 Menschen mit koreanischen Wurzeln.

Wie kam es dazu? Wie konnte ein Land, in dem es vor 30 Jahren de facto keine Popmusik, ja keine Jugendkultur gab, innerhalb von kürzester Zeit erst große Teile Asiens und nun fast die ganze Welt mit Hits, Musikvideos und Live-Auftritten überziehen? Ein Land, dessen Existenz vor 35 Jahren kaum jemand im Westen überhaupt bewusst wahrnahm? Wie produziert ein Land mit gerade einmal 50 Millionen Einwohnern Musikvideos, die regelmäßig die Grenze von 200 Millionen Views bei YouTube sprengen? Was sind diese komischen Hashtags wie #ARMY, #MooMoo oder #Reveluv, die man immer häufiger auf Social Media sieht? Was zum Teufel ist ein „Bias“, und was bedeutet „Maknae“?

Darüber hinaus macht derzeit ein handfester Skandal um K-Pop-Superstar Seungri (der soeben seinen Rücktritt aus dem Showbusiness bekanntgegeben hat) und sein Label YG Entertainment Schlagzeilen; es geht um Drogen, Sexualverbrechen, Prostitution und Polizeikorruption – was sind also die Schattenseiten des K-Pop?

Um diese Fragen zu beantworten, wäre es hilfreich, jemanden zur Hand zu haben, der sich ein wenig mit Korea auskennt (Seoul Mapo-Dong born and raised). Und die Entwicklung seit Anbeginn mitverfolgt hat – und vielleicht obendrein sogar regelmäßig K-Pop hört: Zum Glück bin ich ein solcher Mensch, und in den nächsten Wochen werde ich versuchen, der geneigten Leserschaft einige Dinge über das Phänomen K-Pop näher zu bringen.


Die Reise beginnt mit der Beerdigung meiner Großmutter.

Teil 1: Genesis

Diese fand 1992 in Seoul statt. Und als ihr ältester Enkel war ich natürlich mit meinen damals knapp 14 Jahren aus Mailand angereist, um der Trauerfeier beizuwohnen. Zum Glück gab es an der Deutschen Schule Mailand fast drei Monate Sommerferien, so dass ich neben dem tragischen Anlass noch einige schöne Wochen mit meiner Mutter wie auch mit Freunden Familie verbringen konnte.

Und die Luft im Sommer 1992 in Seoul war – man kann es nicht anders nennen – elektrisch. Selbst, nein, vielleicht gerade der Teenager konnte spüren, dass man sich gerade im Zentrum einer Entwicklung fast schon epochalen Ausmaßes befand. Dass hier gerade etwas passierte, was über Jahrzehnte hinweg seine Spuren hinterlassen würde. Und im Gegensatz zu sonst so oft in der jüngeren koreanischen Geschichte war es diesmal keine Fremdbesatzung. Kein Krieg, kein Militärputsch, keine Revolte. Wenige Jahre zuvor war mein Schulbus noch jeden Tag durch die ätzenden Schwaden von Tränengas gefahren, mit dem vor der Yonsei-Universität die Studentenproteste gegen die Militärdiktatur von Chun Doo-hwan niedergeschlagen wurden. Und wenige Jahre davor hatte das Gwangju-Massaker stattgefunden; doch was jetzt in der Luft lag, war keine politische Umwälzung, sondern etwas ganz anderes.


Es war ein Lied. Der Titel? „난 알아요 (Nan Arayo – dt.: ich weiß)“ von 서태지와 아이들 (Seo Taiji & Boys). Es ist übrigens kein Zufall, dass der Name der Gruppe (ausgesprochen „Sŏtädschi-oa Eidŭl“) ein wenig so klingt wie „Stage Idol“.

Es mag seltsam klingen, einen Popsong mit dem Aufbegehren eines Volkes für Freiheit und Demokratie gleichzusetzen. Zumal „Nan Arayo“ (trotz seines Public-Enemy-Samples) kein Protestsong, keine Philippika, keine revolutionäre Hymne war, sondern bloß ein gerapptes Liebeslied. Musikalisch irgendwo zwischen dem New Jack Swing von Janet Jackson und dem Eurodance von Snap!; aber glaubt mir, dieser Vergleich, so hanebüchen er zunächst auch klingen mag, ist gerechtfertigt. 

Um das zu verstehen, muss man sich ein wenig mit der Geschichte Südkoreas auseinandersetzen. 

Über die Geschichte Koreas

Nach Jahrhunderten der selbsterwählten Abschottung der Joseon-Dynastie, nach der japanischen Besatzungszeit (1910-1945) und der fast vollständigen Verwüstung im Koreakrieg (1950-1953) war Südkorea eines der ärmsten Länder der Welt. Bis in die 70er Jahre hinein sogar ärmer als das stalinistische Nordkorea. Noch 1965 war das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt von Algerien etwa zweieinhalbmal so hoch wie das Südkoreas (heute liegt das Verhältnis bei 7,25:1 zugunsten der Koreaner). Innerhalb der 25 Jahre zwischen 1962 und 1987, also binnen einer Generation, stieg das Pro-Kopf-BIP um schier unglaubliche 5.000%.

Eine Verfünfzigfachung der Volkwirtschaft in so kurzer Zeit kann natürlich nicht ohne Konsequenzen bleiben. Das Leben in Korea veränderte sich grundlegend. Aus Großfamilien in Bauernhäusern wurden Kernfamilien oder Singles in Apartment-Hochhäusern. Menschen, die vorher an oder unter dem Existenzminimum lebten, hatten jetzt Geld für Autos, Mode, Freizeit. Und die Jugendlichen, die bis Mitternacht nur für die Schule lernen und gehorchen sollten, um diese Entwicklung voranzutreiben, wollten auf einmal ihre Individualität ausleben, ihre Stimme in den kulturellen Diskurs mit einbringen. Allein in dieser Hinsicht war Südkorea noch ein absolutes Entwicklungsland. In Rundfunk und Fernsehen gab es Schnulzen, patriotische Volksmusik und „Trot“ – ein Zwischending zwischen japanischem Enka und deutschem Schlager, und etwa so interessant für junge Menschen, wie es klingt.

Übrigens soll das absolut kein Diss gegen Trot-Sänger sein. Bae Ho war eine Legende, und Lee Mi-ja ist eine große Künstlerin – sie war so beliebt, dass sie sogar 2002 in Nordkorea auftreten durfte – aber so richtig rocken tut das halt nicht.

Versteht mich nicht falsch: Selbstverständlich gab es in Korea auch damals Metal- und Punkbands, Rap-Crews und DJs. Doch fristeten sie ein Nischendasein im Underground, weil kein Radiosender sie spielte und kaum eine Bühne sie auftreten ließ. Auch weil die Zensur seitens der Regierung enorm streng war. Obendrein gab es Quoten für Musik aus dem Ausland, und auch hier schlug die Zensur gerne zu, was zur Folge hatte, dass Jugendliche in Korea nur über Freunde oder Aufenthalte im Ausland an bestimmte Musik herankamen (und man sich beim Hören einer Dr. Dre-CD in der Seouler U-Bahn wie Che Guevara höchstpersönlich fühlte, ich spreche aus Erfahrung). Ich denke, Leser über 35 aus den neuen Bundesländern können sich eine solche Situation eher vorstellen als „Wessis“, für die das totale Fehlen von jugendorientierter Popkultur spätestens seit Elvis oder den Beatles undenkbar geworden war. Nebenbei ist dies auch einer der Gründe dafür, warum man trotz ihrer Milliardenbevölkerung und ihrer Wirtschaftsmacht kein einziges Lied aus der Volksrepublik China kennt. Diktaturen und erzwungener Konformismus sind nicht besonders förderlich für Musik für junge Menschen.

Die Generation 88

Es gab also, im Zuge des koreanischen Wirtschaftswunders, eine immens große Anzahl an jungen Menschen, die etwas wollten, was nur für sie war. Etwas, das die „Generation 88“ (so genannt nach den Olympischen Sommerspielen jenes Jahres, die das Land zum ersten Mal seit dem Bürgerkrieg in den Mittelpunkt der Weltaufmerksamkeit rückten) von ihren konservativen Eltern abgrenzte. Doch wurde diese nunmehr auch lukrative Gruppe schlicht nicht bedient: Der Boden war also fruchtbar, die Zeit war reif, alle warteten auf ein Feuer. Alles, was es brauchte, war ein Funke.

Es ist normalerweise schwer bis unmöglich, genau festzulegen, wann ein Musikgenre entstand, was das erste Lied einer bestimmten Gattung war. Hauptsächlich, weil die meisten Genres fließend aus anderen hervorgehen und somit feste Demarkationslinien nicht leicht zu ziehen sind. Ist Ike Turners „Rocket 88“ noch Rhythm & Blues, oder schon Rock & Roll? Warum ist Blondies „Rapture“ Punk, wieso wird Chics „Good Times“ zu Disco gezählt, Spoonie Gees „Spoonin‘ Rap“ unter Hip-Hop geführt? Diese Frage stellt sich bei K-Pop jedoch überhaupt nicht: Seine Geburtsstunde ist unbestritten der 11. April 1992, als Seo Taiji & Boys zum ersten Mal in einer der vielen Hitparaden-Sendungen im koreanischen Fernsehen auftraten. Und von der Jury gnadenlos verrissen wurden. Doch genau die Kritik der Jury, die niedrigste Wertung in der Geschichte der koreanischen Hitparaden, gab den Ausschlag für ihren Erfolg. Nicht nur war jetzt auf einmal eine Musik da, die vollkommen anders war als alles andere, was man in Korea gehört hatte (von Künstlern, die aussahen und sich kleideten wie die Jugendlichen selbst) – die Erwachsenen konnten nichts damit anfangen, ja mehr noch, sie konnten sie nicht ausstehen. 

(Stellt euch vor, die Ärzte oder die Beginner wären in den 70ern bei Dieter Thomas Heck aufgetreten. Jetzt habt ihr in etwa ein Gefühl dafür, was hier geschah)

Der Funke sprang über, die Stichflamme loderte auf. K-Pop war geboren. Nichts würde in Korea mehr so sein, wie es vorher gewesen war.

Im nächsten Artikel geht es bald weiter mit: Was ist K-Pop überhaupt?

Falls du nicht so lange auf neues Futter warten möchtest, empfehlen wir diese Artikel: Crazy Rich Asians – “In Amerika verhungern Kinder” und die Rezension zum Film.

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